Im „Bayerischen Pfaffenwinkel“, einem Gebiet zwischen den Flüssen Lech, Ammer und Loisach, dem südlichen Ammer- und dem Südende des Starnberger Sees, bis hin zu den Ammergauer Alpen, liegen Kirchen und Klöster so eng beisammen wie sonst nirgendwo im Lande. Auch „Die Wies“ steht hier und erzählt eine merkwürdige Geschichte, die zu ihrem Bau führte: Nur drei Jahre, von 1732 bis 1734, wurde die Skulptur eines gegeißelten, in Ketten gelegten Heilands bei den Karfreitagsprozessionen mitgetragen. Kunst oder Schönheit versprühte sie nicht. Im Gegenteil, die Figur sah gar erbärmlich aus. Folglich verbannte der Abt des Klosters Steingaden den Heiland in eine Abstellkammer seines Klosters. Doch die Gläubigen, denen der gegeißelte Heiland ans Herz gewachsen war, hatten die Skulptur nicht vergessen. Einige Jahre später, 1737, bat das Ehepaar Lory darum, ob sie die Skulptur nicht auf ihren Bauernhof in die unwegsame, unbekannte Einöde der Wies verbringen dürften, um ihr in ihrem Schlafgemach einen würdigen Platz zu geben. Am 4. Mai 1738 war es dann so weit. Da stand sie nun als Andachtsbild, weit weg von aller Öffentlichkeit des vielbesuchten Klosterortes, in der schlichten Schlafkammer der Familie, zwar sehr geschätzt, verehrt und gepflegt, aber einsam und verlassen. Am 14. Juni 1748 geschah das Wunder. In der Nacht entdeckte Maria Lory Tränen im Gesicht des Gegeißelten. Natürlich erzählte sie ihrem Beichtvater im Kloster von diesem wundersamen Ereignis. Der Abt des Klosters wollte kein Aufheben um das Erlebnis der frommen Bäuerin machen. Zu abstrus klang die Geschichte. Dennoch wurde das Tränenwunder bekannt und Neugierige wie Fromme kamen in die Wies, um die Skulptur persönlich in Augenschein zu nehmen.
Auch als der Abt die Figur in eine eigens dafür hergerichtete Kapelle verbringenließ, riss der Strom der Wallfahrer nicht ab. Die Verehrung hielt an, und die Kapelle musste vergrößert werden. Das Bistum Augsburg schaltete sich ein, um Licht in die Angelegenheit zu bringen. Im Jahr 1743 erteilte schließlich der Steingadener Abt Hyacinth Gassner Dominikus Zimmermann, dem Baumeister und seinem Bruder Johann Baptist, dem Freskenmaler, den Auftrag zum Bau einer Kirche in dieser Einöde zwischen Wald und Mooren. Es wurde ein einmaliges Kunstwerk, welches zwischenzeitlich jährlich von rund einer Million Gästen besucht wird. 1984 wurde es zum UNESCO-Weltkulturerbe erhoben. „Die Wies“ ist heute Bestandteil des naturnahen Landschaftsbildes im oberbayerischen Alpenvorland. Doch mit der Ruhe und Beschaulichkeit ist es längst vorbei, wenn die Touristen aus aller Welt wie die Heuschrecken in die Gegend einfallen. Dann sind die Großparkplätze von Blechkarossen belegt, und Menschen machen sich in Scharen auf den kurzen Weg hin zu der Rokokokirche „Zum gegeißelten Heiland auf der Wies“. Wer die Kirche betritt, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Formen, Farben und lichtvolle Schönheit beeindrucken den Besucher.
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Textquelle:
Rosenzweig, Werner: Romantische Straße: Die 99 besonderen Seiten der Region, Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 2019.
Bildquelle:
Fotografien: Rosenzweig, Werner, entnommen ebd.