1938 fassten einige Herren aus Mitteldeutschland den Entschluss sich eine Ferienreise mit dem Auto nach Österreich (das kurz zuvor an das Deutsche Reich angeschlossen worden war!) zu gönnen. Um die Kosten so gering, wie möglich zu halten tat man sich dazu zu viert zusammen; die Ehefrauen mussten also zu Hause bleiben. Die unternehmungslustigen Herren waren der Autobesitzer Ernst Preuß, aus Spremberg, zwei seiner Freunde sowie sein Schwager A. Schmidt aus Halle.
Bei dem Reisefahrzeug handelte es sich um einen immerhin schon neun Jahre alten österreichischen „Steyr XII", vom Typ L-4, in der Luxusausführung Weymann. Als Wagen der Mittelklasse betrachtet, wies er einen Hubraum von 1,6 Litern, bei 6 Zylindern und einer Leistung von 30 Ps. auf. Damit war eine Höchstgeschwindigkeit von 85 Km/h möglich, wobei der durchschnittliche Benzinverbrauch 13 Liter betrug.
Einer der mitreisenden Herren (A. Schmidt) fertigte über die Ferienreise Fotos und einen Bericht an. Auf Grund der Seltenheit solcher Erinnerungsdokumente soll daraus in der Folge im Wesentlichen die Hinfahrt-Tour durch Bayern wiedergegeben werden. Da natürlich im Sprachstiel der Zeit gehalten, mussten der Text um einige heute unpassende Passagen gekürzt werden. Auch wurde dieser in die heutige Orthographie gesetzt, grammatikalisch leicht überarbeitet und andere Fehler ausgemerzt.
„Am Freitag, den 8. Juli morgens 4 Uhr [die Fahrt von Spremberg aus, hatte schon in der Nacht gegen 10 Uhr begonnen!] starteten wir zu unserer großen Ferienfahrt von Halle aus. Bei Hohenthurm ging es auf die Autobahn, die ich damit das erste Mal befuhr. ... Alles ist bis ins Kleinste durchdacht. Sei es die Anpassung an die Landschaft, durch die die Bahn führt, seien es die vielen Brücken und Überführungen, die Parkplätze, die Ausgänge, die Wildwechsel oder die Leuchtaugen, die nachts den Rand der Bahn anzeigen, nichts ist vergessen worden und alles ist vorbildlich durchgeführt. Und dabei so einfach und übersichtlich, dass sich ein Kind zurechtfinden kann. Das Fahren auf den Bahnen macht einen so wohligen Eindruck, dass man dabei fast gar nicht an den ungeheuren strategischen Wert der Bahn denkt. ... Kurz nach der Auffahrt auf die Bahn sagte uns die Sonne guten Morgen. Zuerst streckte sie ihre Fühler aus.
Ein rosiger Schein zeigte sich im Osten, dann vergoldeten sich die Ränder der Wolken, dann schwamm alles im Golde und schließlich tauchte sie selbst hinter einer großen Wolke hervor und begrüßte uns mit ihrem strahlendsten Lächeln, wodurch unsere frohe Stimmung noch erheblich gesteigert wurde. ... So zogen wir glücklich unseres Weges, freuten uns des herrlichen Morgens und der schönen Landschaft und dachten an nichts Böses, als der Motor bei Triptis plötzlich streikte. Er hatte nichts mehr zu saufen. Na, wir hatten ja etwas Reservebenzin.
An der Wagnerfestspielstadt Bayreuth vorbei langten wir dann gegen 12 Uhr in Nürnberg an. ... Dann fuhren wir in die Stadt ein, stellten den Wagen in einer Seitenstraße unter und besichtigten die Burg, die gerade wieder restauriert wurde. Bei der Führung durch die schöne Kaiserburg sahen wir wohl herrliche Holzschnitzereien von Veit Stoß, wunderbare spanische und niederländische Gemälde und Gobelins, einzigartige Ausführungen von Kachelöfen usw., aber es war eben nur eine kurze Durchführung. Etwas genauer zu betrachten, dazu war die Zeit der Besichtigung viel zu kurz und die Erklärung der Führerin viel zu geschäftsmäßig und zu monoton. Interessanter war schon die Besichtigung und Erklärung des Schlossbrunnens.
Den haben im 11. Jahrhundert die Gefangenen 70 Meter tief aus dem harten Felsen aushauen müssen. Die Bauzeit betrug 30 Jahre. Auf dem Grunde steht 4 Meter hoch klares Wasser. Außerdem mussten die Gefangenen noch von der Höhe des Wasserspiegels 2 unterirdische Gänge ausschlagen. Der eine führt zu einem Friedhof und ist jetzt zum Teil verschüttet, der andere endet im Rathaus und ist heute noch gangbar. Diese beiden Gänge wurden von den Schlossbewohnern als Flucht- und von der Schlossbesatzung bei Gefahr als Abzugsweg benutzt, um den Feind wieder in den Rücken fassen zu können. Die Gefangenen, die nie wieder an das Tageslicht kamen und daher mit der Zeit alle blind wurden, mussten durch diese Gänge täglich das Wasser holen.
Um die Tiefe des Brunnens anzuzeigen, hat man bei der Besichtigung ein Blech mit brennenden Kerzen hinabgelassen. Ferner wurde noch ein Glas Wasser ausgeschüttet, das man erst nach 6 Sekunden unten aufklatschen hörte. Nach dieser interessanten Besichtigung schlenderten wir in die Stadt zu dem historischen Marktplatz, bestaunten den schönen Sebaldusbrunnen und passierten eine Anzahl Straßen. ... In einem Lokal, das Ernst als alter Nürnbergfahrer bekannt war, wurde kurze Rast gemacht und dann ging es im Wagen weiter. Bei dem Versuch, den Ausgang aus der Stadt zu finden, ereilte uns das Schicksal. Weil wir auf einem Platz nicht rechtzeitig den Winker ausgestreckt hatten, durften wir 1 RM Strafe - übrigens die einzige während der ganzen Fahrt - berappen. Nach dieser „Erleichterung" fanden wir uns aber bald aus Nürnberg heraus und es ging in Richtung München weiter über Weißenburg und Eichstätt. Die Landschaft war hier sehr abwechslungsreich und es gab wunderbare Landschaftsbilder. Besonders Eichstätt entzückte uns. Es lag im Tal und schmiegte sich an die sanft ansteigenden Höhen an. Dazu lag die Abendsonne über dem ganzen Tal. Ein schönes friedliches Bild, das uns eine Weile begleitete. Dann passierten wir Ingolstadt, das zur 125-Jahrfeier der dortigen Pioniere festlich geschmückt war, und Pfaffenhofen.
Unser Programm hatte zwar vorgesehen, bei guter Witterung im Freien zu übernachten, aber damit wurde an diesem ersten Reisetag nichts. Es hatte sich in den Abendstunden ein ganz netter Sturm aufgemacht und der Himmel sich so mit Regenwolken überzogen, dass wir kurz entschlossen von der Chaussee abbogen und in das nächste Dorf, Ilmmünster, fuhren, wo wir auch im „Gasthof Schweiger" Unterkunft fanden.
Es war gegen 9 Uhr abends geworden. Ernst hatte seit der Abfahrt von Spremberg - abends 10 Uhr - am Steuer gesessen und sich also nach dieser Anstrengung ein gutes Nachtlager reichlich verdient. Auch wir anderen waren nach den vielen Eindrücken müde und kaputt geworden, sodass wir froh waren, als wir unsere müden Knochen im Bette ausstrecken konnten.
Der nächste Morgen begann gleich mit einer Überraschung. Weil nämlich die Betten, in denen Kamerad Frost und Rothe geschlafen hatten, nur bunt bezogen waren und weil in diesem Zimmer kein elektrisches Licht war, brauchten sie pro Bett nur 60 Rpf zu zahlen, während Ernst und ich in weiß bezogenen Betten bei elektrischen Licht 1,20 RM berappen mussten. Dann ging es mit frischen Kräften weiter. Infolge Festsitzens der linken Hinterradbremse gab es unterwegs erst einen kleinen Aufenthalt. Der Fehler war aber bald gefunden und abgestellt. Gegen 10 Uhr trafen wir dann in München ein.
Der Wagen wurde abgestellt und dann ging es zur Besichtigung in die Stadt. Wir hatten besonderes Glück. Es waren gerade die Tage der deutschen Kunst. Von der wunderbaren Ausschmückung der Stadt kann man nur schwer eine ungefähre Beschreibung geben. Fast in der ganzen Stadt waren an den Fenstern einheitlich weiße Lampions angebracht.
Das ganze Zentrum war ein Farbenmeer von Flaggen. Die verschiedenen Straßen hatten einheitliche Farben: rot, gelb, grün, blau, gold usw., die Tücher gingen zum Teil über die ganze Straßenbreite und hingen zu beiden Seiten an den Häusern bis zur Erde herunter. Es war wie ein Baldachin. Dazwischen große goldene Kränze oder Hoheitszeichen usw. Unbeschreiblich schön. Besonders herrlich war das Rathaus geschmückt. Außerdem hörten wir gerade vom Rathausturm das Glockenspiel.
Es spielte ein kleines Menuett von Haydn oder Mozart, dazu tanzten eine Anzahl Rokokopärchen, dann folgte das Lied „Muss i denn zum Städle hinaus" und zum Schluss krähte ein Hahn. Nach den Erklärungen eines Münchners, die ich aufschnappen konnte, soll dieses Glockenspiel 226 000 RM gekostet haben, was durchaus glaubhaft ist.
Das Gedränge und der Verkehr waren zu dieser Mittagszeit geradezu lebensgefährlich. Man kam fast nur zentimeterweise vorwärts. ... Schade nur, dass unsere Zeit so kurz bemessen war. Hier hätte man Tage verweilen können, um sich alles genau anzusehen. Natürlich wurde dem „Hofbräuhaus" auch ein Besuch abgestattet. Das Bier wird dort direkt vom Fass aus verschänkt, also ohne Kohlensäure. Von den dort beschäftigten Kellnerinnen haben verschiedene schon ihr 35-jähriges Dienstjubiläum gefeiert. Es sind also schon ganz ehrwürdige Matronen darunter.
Na, mittlerweile war es gegen 4 Uhr nachmittags geworden. Wir dachten an die Weiterreise. In einer Reparaturwerkstatt ließen wir zur Vorsorge erst noch einmal die linke Hinterradbremse nachsehen. Sie hat uns dann auch auf dem ganzen Weg keine Schwierigkeiten mehr gemacht. Da uns bei der Weiterfahrt die Strecke über den Zirler Berg [zwischen Mittenwald und Innsbruck!] aber doch etwas zu mulmig vorkam, wurde beschlossen, einen anderen Weg zu wählen. Also ging es zurück auf die Reichsautobahn München-Rosenheim. ... Und diese Strecke war landschaftlich die schönste Autobahnstrecke, die wir kennengelernt haben.
Der Anblick z.B. von der hohen Mangfall-Brücke in das tiefe Tal war unvergleichlich. Leider war das Wetter zu einer Aufnahme nicht günstig. Allmählich wurde es auch wieder dunkler und es nieselte dauernd, so dass wir daran denken mussten, unsere teuren Häupter in Sicherheit zu bringen. In Kirchdorf fanden wir dann auch eine Bleibe, wo wir drei Reisefährten in einem Zimmer schlafen konnten, während Ernst es sich nicht nehmen ließ, in seinem Wagen zu übernachten.
Am anderen Morgen sahen wir beim Abfahren die ganze Bergkette vor uns liegen. Ein wunderbarer Anblick und eine anheimelnde Gegend. Neben der Straße läuft der Inn. Die schmucken Häuschen sind reich verziert und bemalt mit Bildern und Sprüchen der biblischen Geschichte. An der Straße sahen wir öfter Muttergottesbilder, teils ganz einfach, teils in kleinen Kapellen. So fuhren wir in das ehemalige Österreich ein. Am Zollhaus wurde nur gefragt: „Haben sie etwas zu verzollen?" „Nein." „Danke weiter"."
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Bilder: Hans-Joachim Böttcher