Die steinerne Agnes
Carolin Eberhardt
Der Teufel trieb in alten Legenden, Sagen und Märchen sehr
oft sein Unwesen mit besonders gottesfürchtigen Menschen, da es ihm bei ihnen
besonders Freude bereitete, sie vom rechten Weg abzubringen. Meist in
verkleideter Form, als Tier oder als Mensch, erschien er dann den Menschen und
flüsterte ihnen seine Lügen ins Ohr. Eine solche Geschichte hat sich auch einst
bei Reichenhall ereignet. In einer Schlucht des Bayrischen Waldes, die heute
noch als Teufelsloch bekannt ist, kann eine Felsformation bewundert werden,
welche die Steinerne Agnes genannt wird. Zu der Entstehung dieses Felsens berichtet die nachfolgende, aus der Region überlieferte, Sage.
Einst geschah zwischen Reichenhall und Hallthurn, auf dem Dreisesselberg des Lattengebirges, eine sehr außergewöhnliche Geschichte. Dort lebte einmal eine junge, über das Maß hinaus, fromme und brave Kuhhirten, die in aller Frühe im Morgentau jeden Tag ihre Kühe auf die Alm hoch trieb. Auf einer Anhöhe angelangt, von der aus ein sehr weiter Blick über das Gebirge möglich war, stand vorzeiten ein hölzernes Kreuz. Jeden Morgen, wenn die Hirtin diese Stelle erreichte, kniete sie vor dem Kreuz nieder und sprach ihr Morgengebet. Ebenso wiederholte sie dort tagtäglich nach getaner Arbeit ihr Abendgebet. Es verwundert nicht, dass das „Diendl“ bei allen Leuten wegen seiner Frömmigkeit beliebt war. Doch gerade wegen ihrer weitbekannten Gottesfürchtigkeit hatte der Teufel es auf sie abgesehen. Denn solch fromme Menschen mit seinen teuflischen Künsten zu verführen, war des Teufels liebstes Werk. Die weniger Frommen oder Gottlosen spielten ihm ohnehin schon genug in die Karten. Bei ihnen bestand für den Fürsten der Hölle kein Anreiz. Aus diesen Gründen war er auf die junge Kuhhirtin besonders erpicht. Seine übliche Gesellschaft aus Weberknechten und Schlangen in seinem höllischen Palast war ihm zudem überdrüssig geworden, er wollte etwas Frisches an seiner Seite, mit dem er seinen Spaß treiben konnte.
Und so versuchte er allerlei Tricks, um das junge Diendl zu verführen. Einst kam er als Hirtenbub verkleidet in ihre Hütte und gab vor, er habe sich beim Suchen eines entlaufenen Schafes im Gebirge verirrt. Ein anderes Mal kam er als junger Geiger aus dem Wurzengraben zu ihr, welcher im Winter bei Hochzeiten seine Musik zum Besten gebe. Auch der Hirtin gab er mit seiner Fidel ein Ständchen, scherzte mit ihr, machte ihr Komplimente und umwarb sie, dass sie sich in ihn verlieben sollte. Aber das fromme Diendl hatte schon bald gemerkt, dass der Knabe nichts Gutes im Schilde führte. Und so holte sie sich alsbald bei den folgenden Besuchen des Geigers andere Sennerinnen mit in ihre Hütte, die dann die gesamte Zeit seines Aufenthaltes mit anwesend waren. Die Schlauheit des Mädchens erzürnte den Teufel so sehr, dass er nun einen Plan ersann, wie er das Diendl an einen abgelegenen Ort locken könnte. Und so trieb der Teufel ihr aus ihrer Herde eine weiße Kuh hinfort, bis auf eine abgeschiedene Alm, welche man als Almgarten kennt und wo sich zu späteren Zeiten das Kloster St. Zeno befand. Aus Angst um ihre Kuh gelangte das Mädchen letztlich auf eben diese Alm, wo kein anderer Mensch sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt. Dort stand nun vor ihr der Teufel in einem grünen Jagdgewand, mit feurig glühenden Augen, und sagte zu ihr: „Wenn du nicht auf der Stelle mit mir gehst, so werde ich dich hier und jetzt zerreißen.“
In größter Angst ist das Diendl vor dem Teufel geflohen,
welcher ihr aber sofort folgte. Er trieb sie daraufhin weiter, bis zu einer
großen steilen Wand, von der er wusste, dass das Mädchen keinen Ausweg mehr
finden könnte. Das Mädchen aber schrie daraufhin laut aus. „O heiligi Muatta
Gottes hilf! Hilf!“ Da tat sich plötzlich der Fels vor ihr auf und sie konnte
unbeschwert durch die Wand hindurch entfliehen. Doch schon vernahm sie das
Keuchen des Teufels, welcher ihr durch die Schlucht folgte. Die keusche
Kuhhirtin fiel verängstigt auf die Knie und betete zum Herrgott, er möge sie
erretten. Schon kamen vom Himmel zwei Engel herab, um ihr Beistand zu leisten.
Sie nahmen sie zwischen sich und trugen sie eiligst in den Himmel hinauf. Der
Teufel aber fluchte grausig über das Geschehene und war wegen seiner
entgangenen Beute fuchsteufelswild. Denn als er an die Stelle gelangte, an der
er eben noch die Sennerin glaubte, fand er dort nur eine steinerne Kuhhirtin
vor. Fortan wurde die Steinskulptur, nach der Kuhhirtin, die steinerne Agnes
genannt. Diese Geschichte trug sich an Johannis zu, zu der Zeit der
Sommersonnenwende. Noch heute kann sich der Wanderer in jedem Jahr zur gleichen
Zeit davon überzeugen, dass es Agnes im Himmelreich gut ergangen ist. Denn zu
diesen Zeiten lässt sich bei der steinernen Agnes, eben in dem Moment, in
welchem die untergehende Sonne das Teufelsloch erhellt, ein fröhliches Jauchzen
vernehmen.
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Textquelle:
In Anlehnung an: Schöppner, Alexander (Hrsg.): Sagenbuch der Bayrischen Lande: Aus dem Munde des Volkes, der Chronik und der Dichter, 1. Band, München, 1874.
Bildquelle:
Vorschaubild: Steinerne Agnes, Gipfelaufbau ("Kopf und Hut"), 2018, Urheber: Cantakukuruz via Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0.
Ansichtskarte - Photo schwarzweiß - "Gruss vom Dreisessel - 1332 Meter", 1906, Urheber: unbekannt via Wikimedia Commons Gemeinfrei.
Contour of the Devil, 1897, Urheber: Fritz Erler via Wikimedia Commons Gemeinfrei.
Teufelsloch, Lusen, 2019, Urheber: Rosa-Maria Rinkl via Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0.
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